Ein neuer Blick auf Raum und Wahrnehmung
In der zeitgenössischen Architektur zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab: Der Fokus verschiebt sich zunehmend von reiner Formensprache und Materialästhetik hin zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung von Raum. Multisensorische Architektur ist kein theoretisches Konstrukt mehr, sondern Ausdruck eines gestiegenen Bewusstseins für die emotionale, physische und psychologische Wirkung von Gebäuden. Es geht um das sinnliche Erleben von Raum – mit allen Sinnen. In einer Welt der Reizüberflutung und digitalen Abkopplung entstehen Orte, die nicht nur visuell überzeugen, sondern fühlbar, hörbar und manchmal sogar riechbar gestaltet sind.
Die Rückkehr zur taktilen Qualität von Materialien
Während sich viele Jahrzehnte lang alles um klare Linien, glatte Oberflächen und industrielle Standards drehte, entdecken Architektinnen und Architekten heute wieder das Potenzial natürlicher Materialien. Hölzer mit spürbarer Maserung, unverputzter Lehm, strukturierter Sichtbeton oder weich geölte Natursteine – diese Oberflächen erzeugen haptische Resonanz. Der Raum wird nicht nur gesehen, sondern mit der Haut ertastet. In Neubauten wie dem „House of Music“ in Budapest oder dem „Fjordenhus“ von Olafur Eliasson in Dänemark wird diese Rückbesinnung auf das Material zum integralen Bestandteil des Entwurfsprozesses. Die Nutzerinnen und Nutzer erleben Architektur dort nicht als Kulisse, sondern als körperliche Erfahrung.
Akustische Architektur: Vom Stille-Raum zum Klangkörper
Auch der Klang eines Raums erhält zunehmend architektonische Beachtung. Gerade in Wohnquartieren und Bildungsbauten spielt die Raumakustik eine entscheidende Rolle für die Aufenthaltsqualität. Architekten arbeiten heute gezielt mit schallabsorbierenden Elementen, diffusen Reflexionsflächen und sogar mit gezielt eingesetzten Soundscapes. Ein gelungenes Beispiel bietet die neue Zürcher Kantonsbibliothek, in der unterschiedliche akustische Zonen für konzentriertes Arbeiten, Austausch und Rückzug geschaffen wurden. Statt Lärmvermeidung als rein technisches Ziel zu verfolgen, wird Klang hier als formgebendes Element begriffen – mit deutlicher Wirkung auf das Wohlbefinden.
Geruch, Licht, Temperatur – unterschätzte Parameter des Raumgefühls
Wie riecht ein Raum? Welche Temperatur empfindet man beim Betreten? Und wie ändert sich die Wahrnehmung, wenn Sonnenlicht über eine raumhohe Wand aus handgeformten Ziegeln wandert? Solche Fragen beschäftigen inzwischen nicht nur Innenarchitekten, sondern auch Stadtplaner und Wohnungsbaugesellschaften. Projekte wie das „Maaemo-Haus“ in Oslo oder das „Balkrishna Doshi Cultural Centre“ in Ahmedabad zeigen, wie subtil eingesetzte olfaktorische, thermische und visuelle Elemente die emotionale Tiefe eines Raums steigern können. Auch in Passiv- und Plusenergiehäusern wird zunehmend darauf geachtet, dass Energieeffizienz nicht zu einer sensorischen Sterilität führt.
Architekturpsychologie als Fundament des Entwerfens
Der Einfluss multisensorischer Gestaltung auf die Psyche ist wissenschaftlich belegt. Studien zeigen, dass bestimmte Raumproportionen, natürliche Materialien und differenziertes Licht das Stresslevel senken, die Konzentration fördern oder sogar Heilungsprozesse beschleunigen können. In Kliniken, Schulen und Wohnanlagen fließen diese Erkenntnisse zunehmend in die architektonische Praxis ein. Der Raum wird dabei nicht mehr als neutrale Hülle betrachtet, sondern als Mitgestalter psychischer Zustände. Architekturbüros wie Snøhetta, Helen & Hard oder Arno Brandlhuber verstehen ihre Arbeit explizit als psychologische Intervention – mit Raum als Medium.
Sensorische Nachhaltigkeit: Jenseits von Energieeffizienz
Multisensorische Architektur steht nicht im Widerspruch zur Nachhaltigkeit. Im Gegenteil: Die Integration aller Sinne kann helfen, die Lebensdauer von Bauten zu verlängern, indem eine tiefere emotionale Bindung entsteht. Wer sich in einem Raum wohlfühlt, wer ihn als vertraut, beruhigend oder inspirierend empfindet, wird ihn pflegen, erhalten und weiterentwickeln. Der Begriff der „sensorischen Nachhaltigkeit“ etabliert sich zunehmend als Erweiterung der rein technischen Kriterien und hebt die Rolle des Menschen als fühlendes Wesen im architektonischen Diskurs hervor.
Beispiele aus der Wohnarchitektur – ein neues Verständnis von Zuhause
Im Wohnungsbau hat multisensorische Architektur längst Einzug gehalten. Ob Mikroapartments mit variabler Lichtstimmung, Wohncluster mit materialoffenen Begegnungszonen oder intelligente Fassadengestaltungen, die mit dem Tageslicht spielen: Der Wunsch nach einem „spürbaren Zuhause“ prägt Neubauten ebenso wie Sanierungsprojekte. Besonders bemerkenswert ist das Berliner Projekt „Living Landscape“ von Barkow Leibinger, das mit unterschiedlich temperierten Zonen, duftenden Innenhöfen und akustisch zonierten Räumen eine neue Qualität des Wohnens schafft.
Zukünftige Perspektive: Der Raum als Erfahrung
Die multisensorische Architektur öffnet das Verständnis von Raum für eine neue Tiefe. Sie verlangt ein Umdenken – weg vom rationalen Entwerfen, hin zu einem fühlenden, wahrnehmenden Gestalten. Die Sinne, so zeigt sich, sind keine Nebensache, sondern der Schlüssel zu echter architektonischer Qualität. Und die Zukunft des Bauens liegt vielleicht genau dort: im Unsichtbaren, im Spürbaren, im Atmosphärischen.